„Biene“ schenkt mir starke Muskeln und mein I-Pad schenkt mir eine Stimme
Hannah ist ein Maikind und 2021 wird sie 14 Jahre alt. Eine seltene genetische Erkrankung bremst Hannah in ihrer Entwicklung. Erst spät hat sie Gehen gelernt, eine eigene Lautsprache blieb ihr verwehrt. Kein Grund aufzugeben – Dank liebevoller Unterstützung und Förderung von Familie und Umfeld kann sich Hannah mit Hilfe eines I-Pads mit Kommunikations-App mitteilen. LIFEtool begleitet Hannah schon viele Jahre und freut sich über die Schritte, die sie schon gegangen ist und noch gehen wird.
„Am 8. Mai werde ich 14 Jahre alt. Ich lebe mit dem Wolf-Hirschhorn Syndrom. Das ist eine sehr seltene Gen-Krankheit, bei der vom 4. Chromosom ein Stück fehlt. Dadurch habe ich sehr schwache Muskeln.
Ich esse gern Schokolade und mag alles, was mit Musik zu tun hat: Musik hören, Tanzen und Singen. Ich habe auch eine Ukulele und bin stolz, dass ich in die Musikschule gehen kann, und dort Klavierspielen lerne. Besonders liebe ich das Reiten auf meinem Therapiepferd Biene. Sie hilft mir, mich aufzurichten und stärkt meine Muskulatur. Auf Biene fühle ich mich groß und stark.
Seit ich 5 bin, habe ich ein I-Pad, das mir auch hilft mich zu verständigen, denn so richtig sprechen kann ich leider nicht. Meine Mama macht mir damit vor, wie Kommunikation geht. Wenn ich am Samstag mit meinem Papa zum Bäcker gehe, kann ich mittlerweile schon alleine das Brot bestellen. Ich muss dazu einfach nur auf die Symbole tippen, und das I-Pad spricht es dann für mich aus."
Hannah ist ein „Hirschhörnchen“
Wenn Hannahs Mama Martina ihre Tochter mit liebevoller Stimme als „Hirschhörnchen“ beschreibt, meint sie damit, dass Hannah mit dem Wolf-Hirschhorn-Syndrom zur Welt kam. Das ist eine sehr seltene genetische Veränderung, die bei Hannah nicht vererbt wurde, sondern spontan auftrat. Bei diesem Syndrom „bricht“ ein Teil des 4. Chromosoms ab und verursacht unterschiedlichste gesundheitliche Probleme. Zum Glück hat Hannah keine organischen Defizite und auch die häufig auftretende Epilepsie ist bei ihr gut im Griff. Betroffen ist Hannahs Bewegungszentrum – sie hat erst mit fünfeinhalb Jahren zu gehen begonnen. So wie andere „Hirschhörnchen“ begleitet auch Hannah das Thema Ernährung – aber auch das ist seit dem zweiten Lebensjahr bei ihr kein Problem mehr, wobei sie immer sehr zart und klein bleiben wird. „Mittlerweile muss ich Hannah sogar manchmal beim Essen bremsen – sie liebt Süßes, isst auch gern exotische Sachen und ist ein richtiger Wurst-Tiger“, erzählt Mama Martina.
Biene schenkt Hannah starke Muskeln
Um ihre Muskeln zu stärken, hat Hannah schon lange Reittherapie – eine Therapieform, die sich für Hannah zu einer großen Leidenschaft entwickelt hat: „Sie liebt das Schaukeln, wenn Biene, ihr Therapiepferd, im Schritt geht. Dann fühlt sie sich richtig groß und stark. Am lustigsten findet Hannah es, wenn sie trabt. Dann lacht sie ganz ausgelassen und lobt natürlich danach das Pferd”, erzählt Martina.
Hannah kann nur wenig selbst sprechen
Betroffen ist auch Hannahs Sprachzentrum und sie verfügt über keine ausgeprägte Lautsprache. Aber das bedeutet nicht, dass Hannah nicht kommunizieren kann. Bereits mit 5 Jahren kam die heute 14-jährige Hannah mit ihrer Mama zu einer LIFEtool Beratung und machte erste Bekanntschaft mit einem I-Pad. In den ersten Jahren benutzte Hannah ihre Kommunikationshilfe aber nur, um zu spielen und das I-Pad „sprechen“ zu lassen, aber sie setzte es nicht unmittelbar zur Kommunikation ein. „Wir haben das I-Pad eigentlich nur zur Nachrichtenübermittlung zwischen Hannahs Schule und zu Hause verwendet. Und so ist die Kommunikationsförderung mittels I-Pad eigentlich eingeschlafen“, berichtet Martina.
So richtig „aufgewacht“ ist Martina im Zug eines Reha-Aufenthaltes in Bad Radkersburg, wo sie eine andere Mutter dabei beobachtete, wie sie und ihr Kind mittels iPad kommunizierten. „Ich wusste einfach nicht, wie ich die Kommunikation ‚anbieten‘ soll. Ich bin zwar selbst Sonderschullehrerin, aber die Möglichkeiten der Sprachförderung mittels I-Pad haben wir komplett falsch eingeschätzt.“
Motiviert durch die Erfahrung in Bad Radkersburg machten Martina und Hannah einen neuen Anlauf und suchten wieder Kontakt zu LIFEtool. LIFEtool-Beraterin Irmgard Steininger erinnert sich: „Hanna ist ein aufgewecktes und offene junges Mädchen, das gleich gerne in Kontakt geht – allerdings sind ihre Möglichkeiten dabei eingeschränkt! Nach der Begrüßung war klar, dass mir Hannah etwas erzählen wollte, es aber auf Grund nicht ausreichender Lautsprache nicht formulieren konnte. Ich schnappte mir ein LIFEpad mit der App MetaTalk DE und binnen kürzester Zeit fanden wir heraus, dass es einen Unfall auf der Autobahn gegeben hatte und sie deshalb etwas verspätet zum Beratungstermin kamen. Ich war fasziniert, wie schnell Hannah die neue Art der Kommunikation über Symbole aufgriff und sich damit zurechtfand. Sie war sehr glücklich, dieses aufregende Ereignis so mitteilen zu können .“
Das Zauberwort: Modelling – mach es vor!
Das Beispiel von Hannah zeigt, wie wichtig es ist, nicht nur eine Kommunikationshilfe zu besitzen, sondern genau Bescheid zu wissen, wie man mit dieser Hilfe arbeitet und wie man sie im Alltag einsetzt. „Heute weiß man, dass Kinder mit Sprache ‚spielen‘. Auch Kinder erwerben sich die Muttersprache nicht durch Vokabel pauken. Sie hören von früh bis spät Wörter, die an sie gerichtet sind, oder belauschen Gespräche. Sie sehen, in welchen Situationen Wörter verwendet werden. Nach und nach versuchen sie die Sprache nachzuahmen, oft nur die Sprachmelodie, oder einfach plappern. Und sie bekommen Rückmeldung, was Erwachsene aus diesen Plappereien heraushören oder hineininterpretieren. Kleinkinder bekommen viele Monate die Gelegenheit, mit Sprache zu „spielen“. Sie sind umgeben von zahlreichen „Sprachvorbildern“, die Sprache unterschiedlich verwenden. Und jedes Kind will zu dieser Sprachgemeinschaft „dazugehören“, strengt sich an, um auch mitsprechen zu können.
Aber wie ist das nun mit Kindern, die selbst nicht sprechen können? Ihnen fehlt ein wichtiges Bindeglied, um auch dazuzugehören und mitreden zu können! Mit der Unterstützten Kommunikation haben wir Hilfen und Alternativen, die es ermöglichen, auch mit Menschen mit fehlender Lautsprache in Verbindung zu kommen und sie mit uns: mittels Symbole und Gebärden! Ist es nicht möglich, ein Wort zu sprechen, kann auf ein Symbol gezeigt oder eine Gebärde gemacht werden. Die meisten Symbole erschließen sich nicht von selbst, ohne die Beschriftung ist es schwer möglich, abstrakte Symbole zu verstehen. Doch diese Symbolsprache kann man lernen, so wie auch die Lautsprache! Dazu braucht es wieder Vorbilder, die zeigen, mit welchem Symbol ich etwas ausdrücken kann, welche Gebärde in der Situation angebracht ist. Auch Symbole und Gebärden werden nicht gepaukt, sondern am besten gelernt, wenn man in konkreten Situationen sieht, wo und wie man sie einsetzen kann – genau wie die Wörter bei kleinen Kindern!
„Um die Gemeinsamkeit herzustellen, müssen wir „Mundsprecher*innen“ uns bewegen und selber diese Sprache der Symbole so oft es geht verwenden. Wir begeben uns auf eine Stufe mit den Menschen, die wir unterstützen beim Erlernen der Symbole, weil auch wir die einzelnen Symbole und die Struktur, in der sie organisiert sind, erlernen müssen, um eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Dieses Vormachen, wie man Symbole verwendet, nennt man Modelling“, erklärt Irmgard Steininger.
Selbst wieder die „Schulbank“ drücken
Als Sonderschullehrerin und als Mutter war es für Martina selbstverständlich, dass sie sich sofort in der Thema Modelling vertiefte und hochmotivert das Angebot von LIFEtool für einen Modelling-Workshop annahm. „Als Hannah vor neun Jahren mit dem I-Pad begonnen hat, steckte natürlich auch noch die digitale Vermittlung der Inhalte der Unterstützten Kommunikation in den Kinderschuhen. Heute stehen uns sämtliche erprobte Methoden auch digital zur Verfügung. Hilfreiche Software wie MetaTalkDE, wo mittels Symbole kommuniziert wird, gibt es als Kommunikations-App für I-Pads. In der LIFEtool Beratung bestücken wir die I-Pads mit den entsprechenden Apps und schneidern sie auf die individuellen Bedürfnisse der Klient*innen wie Hannah zu. Und selbstverständlich geben wir das Wissen an das Umfeld wie Eltern, Lehrer*innen und Therapeut*innen weiter“, berichtet LIFEtool Beraterin Romana Malzer, die Martina zum Thema „Modelling“ schulte.
„Jetzt weiß ich, wie ich Kommunikation anbieten kann und es funktioniert einwandfrei! Wir starten mit der Sprachförderung von Hannah nochmals voll durch und sind alle motiviert. Wir ‚reden‘ einfach und zeigen Hannah auf ihrem I-Pad vor, wie es geht und so kann sie es viel leichter nachmachen“, ist Martina begeistert.
Gelingende Kommunikation macht glücklich
Dass es funktioniert, zeigt die Praxis: „Als Hannahs Ur-Oma, die in Innsbruck wohnt im Krankenhaus war, hat Hannah mit ihrer Kommunikationshilfe nachgefragt, wie es der Urli geht und wie lange sie noch im Krankenhaus bleiben muss – das wäre vorher undenkbar gewesen. Und samstags, wenn sie mit ihrem Papa zum Bäcker geht, kann sie mittlerweile alleine die Brotbestellung aufgeben – ihr Papa hat es ihr vorgezeigt auf ihrem Gerät und nun kann sie es selbst. Auch das Personal in der Bäckerei ist begeistert und macht super mit. Das motiviert Hannah.“ Martina erinnert sich aber auch, dass nicht alle gleich überzeugt waren, ob die Kommunikation mit dem I-Pad der richtige Weg ist: „Es gab Befürchtungen, dass sie, die wenigen Wörter, die sie jetzt spricht, wie Mama, Papa oder ihrem Alter entsprechend ‚geh, Mama‘, dann nicht mehr spricht. Heute bin ich froh bestätigen zu können, dass das Gegenteil der Fall ist und sie durch die vermehrte Kommunikation mit der Kommunikationshilfe nun sogar mehr Wörter auf Ma- und Pa-Silben nachspricht.“
Das Umfeld muss auch mithelfen
„Martina hat die Inputs aus der Schulung ganz toll umgesetzt“, lobt LIFEtool Beraterin Romana Malzer. „Im Modelling spielt das sogenannte Kernvokabular eine wichtige Rolle. Darunter versteht man Wörter, die sich nicht so leicht selbst erklären wie beispielsweise ‚noch mal, fertig, auch, mehr, …‘. Wenn man diese Wörter lernen möchte, dann nimmt man eine begrenzte Anzahl davon für eine bestimmte Zeit in den ‚Fokus‘, d. h., man verwendet sie im Alltag so oft es geht. Man nennt sie dann Fokuswörter“, erläutert Beraterin Romana.
Eine super Trainingsmethode hat sich Hannahs Mama Martina ausgedacht: Sie hat die aktuellen Fokuswörter laminiert und auf einem Ring aufgefädelt, den sie an Hannahs I-Pad befestigt hat. Auf diese Weise wissen die Lehrerinnen und auch die Klassenkolleg*innen sowie die Oma, die einmal pro Woche nach der Schule auf Hannah aufpasst, während Hannahs Mama in der Arbeit ist, welche Wörter Hannah gerade lernt.
„Besser geht’s nicht“, lautet der abschließende Kommentar von LIFEtool Beraterin Romana Malzer im Hinblick auf Martinas Engagement und Irmgard Steininger ergänzt: „Hannahs Geschichte zeigt, was alles möglich ist, wenn man in der Kommunikation dran bleibt und sich auch das Umfeld beteiligt.“
Wir wünschen Hannah auf ihrem Weg noch viele solche tollen Lernerfolge und viel Spaß in der Schule und mit ihren Schwestern und vor allem auch am Rücken ihres Therapiepferdes.