Mücahit entdeckt die Kommunikation

Als Logopädin begleite ich Mücahit nun schon im zehnten Jahr. Er kam im Herbst 2002 als 6-Jähriger zu uns – klein, zart, mit großen schwarzen wachen Augen, unruhig, neugierig und schon damals äußerst hartnäckig im Durchsetzen seiner Bedürfnisse mit Händen, Augen, Stimme (nur A-Ä-Laute) und seiner verhältnismäßig guten Mimik. Die Diagnose lautete Cerebrale Bewegungsstörung im Sinn einer Athetose – also mit unwillkürlichen Bewegungen und sehr niedrigem Grundtonus. Bald ist an seinen Reaktionen klar, dass sein Sprachverständnis, obwohl Deutsch nicht seine Muttersprache ist, relativ gut ist.
Unser erstes Ziel, einen JA-NEIN-Code durch Zeigen auf Smileys zu erlernen, meistert er mühelos. Inzwischen kann er schon lange für jeden verständlich „JA“ und „NA“ artikulieren. Schnell wird klar: Mücahit braucht eine Kommunikationsmappe.
Als großer Bliss-Fan beginne ich mit Bliss, einer Sammlung von Zeichen, die Begriffe symbolisieren. Mücahit versteht es, aber seine Mitschüler können nichts damit anfangen und so stellen wir auf PCS (Picture Communication Symbols) um. Er erkennt den kommunikativen Wert sofort. Inzwischen kann Mücahit schon lange selbst blättern. Demzufolge ist die Mappe immer relativ schnell wieder zerfleddert. PCS werden für die ganze Klasse für den Stundenplan, Wochenplan, Aufträge, Beschriftungen, u. v. m. verwendet.
2004 kommt unser hauseigener Alphatalker zum Einsatz. Hierbei braucht Mücahit erstaunlich lang (Monate!), bis er ihn zur Kommunikation einsetzt. Er ist für ihn vielmehr ein Spielzeug, auf dem er nur wild herumdrückt und keine Aufmerksamkeit, keine Lernbereitschaft zeigt. Als es endlich soweit ist, lernt er sehr schnell und kann sich die Kombinationen gut merken.
Er kommt mit dem Talker schlussendlich so gut zurecht – was bei dem statischen Display ja eine gewaltige Gedächtnisleistung ist – dass wir uns alle einig sind: Mücahit braucht einen eigenen Talker!
Auf der Suche nach einem geeigneten Gerät komme ich über Isaac Austria zu LIFEtool und werde zu einem SmallTalker-Workshop eingeladen. Danach ist mir klar, dass Mücahit dieses Gerät braucht. Andere Talker kenne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Als auch noch die Erprobung vielversprechend verläuft, machen wir uns ans Geldauftreiben. Schließlich kann der SmallTalker über öffentliche Mittel und Spenden zur Gänze finanziert werden!
Ein Beispiel für die Kreativität von Mücahit: Er genießt die Beratungssituation mit Claudia von LIFEtool und seiner Logopädin Elisabeth und fühlt sich als „Hahn im Korb“. Sein SmallTalker kennt keinen „Hahn“ und so drückt er „Henne“ und „Mann“!
Am 4.12.2007 fahre ich nach Linz zu einer Einschulung und am 5.12. bringe ich den SmallTalker als Nikolaus verkleidet in die Klasse. Danach, als ich mich auch entsprechend eingearbeitet habe, ist es eigentlich nur noch eine Erfolgsgeschichte. Mücahit drückt auch hier wild herum, macht dabei selbst viele Entdeckungen und: Es ist von Anfang an sein Kommunikationsgerät! Er verwendet auch vier Notizbücher am Talker – Allgemein, Schule, Mitteilungen für zu Hause und Privat. Und Letzteres ist streng geheim.
Dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen es sehr schwer ist zu entschlüsseln, was er mitteilen möchte. Dabei ist er erstaunlich geduldig mit uns, versucht zu umschreiben, Querverbindungen herzustellen, verwendet Alltagsgebärden, die man ihm nicht beibringen musste – er hat sie sich einfach abgeschaut. Er ist auch nicht frustriert, wenn es einmal gar nicht klappt.
Ganz entscheidend für den Erfolg von Anfang an, auch schon mit der Mappe, war die wunderbare Zusammenarbeit mit seiner Lehrerin – neben den Einzelstunden habe ich auch viel Zeit in der Klasse verbracht und so hautnah miterlebt, welcher „Spruch“ da gerade läuft – und auch mit einer begeisterungsfähigen Ordensschwester mit ihren Mitarbeitern im Internat. Für die anderen Kinder war es bald nichts Besonderes mehr, dass Mücahit eben mit der Mappe und mit dem Talker spricht.
Gespräch zwischen Elisabeth und Mücahit:
Welche Wörter oder Sätze am Talker sind für dich die Wichtigsten?
- Alle
Und ganz besonders?
- Ich bin Türke.
- Ich bin Moslem.
- Ich wohne In Kufstein.
- Ich habe 4 Schwestern.
- Ich liebe Allah.
- Du kannst normal mit mir reden.
- Ich verstehe fast alles.
- Sport, Fussball
- Galatasaray
- E-Rolli-Hockey
- Musik, Rap
- Tiere (2 Seiten)
- Essen
- Trinken (3 Seiten)
- Allah
- Ich kann mich vorstellen.
- Ich kann sagen, was ich gerne mache und
- was mich interessiert, was mir wichtig ist
- und was mir schmeckt.
- Das geht dich gar nichts an.
- Sch ...
- Das versteh ich nicht.
- Mir ist langweilig.
- Du Monster
Stell dir vor: Du hast keinen Talker. Was kannst du dann nicht machen?
- Schulsprecher, Wahl
- Ich kann nicht als Schulsprecher kandidieren.
- Theater
- Ich kann beim Theater keine Sprechrolle übernehmen.
- Allah, Koran
- Ich kann nicht laut beten.